Eigentlich sollte das Ende von Ramadan in dem dreitägigen Freudenfest Eid al-Fitr münden, das muslimische Familien traditionell miteinander und vor allem für die Kinder feiern. Doch nach so vielen Toten und Verletzten herrscht in unzähligen Familien in Gaza Trauer.
Von Jens M. Lucke
16.06.2018
Den 14. Mai 2018 wird Reem Alzarqa nie vergessen. An diesem Tag starben in Gaza 63 Menschen durch Schüsse israelischer Soldaten. Ihr Bruder Ibrahim war einer von ihnen. Für Reem und ihre Familie schien an diesem Tag die Zeit stehen zu bleiben.
Ibrahim Alzarqa war 17 Jahre alt und Schüler, als israelische Scharfschützen ihm in den Kopf schossen. Mit seiner Teilnahme an den Demonstrationen zum „Großen Rückkehrmarsch“ am Zaun von Gaza wollte er gegen die Gewalt Israels protestieren und die Angriffe auf friedliche Demonstranten mit der Kamera seines Smartphones dokumentieren. Dabei wurde er selbst zum Opfer. Nach Angaben seines Vaters trafen ihn Kugeln im Kopf, als er versuchte, andere Demonstranten zum Rückzug zu bewegen.
„Ibrahim hat immer davon geträumt, entweder Fotograf oder Rechtsanwalt zu werden“, so sein Vater Ahmed in einem Gespräch mit dem Online Magazin Middle East Eye. Er habe ihn vor der Teilnahme an den Protesten gewarnt und darauf gedrängt, er möge lieber für die Schule lernen. „Ich fragte seine Mutter, ob sie wisse, wo er hingegangen sei. Aber er hat niemandem erzählt, dass er mit seinem älteren Bruder Husam und den Freunden aus der Nachbarschaft zum Zaun gehen würde.“
Mitten in der Nacht kam der Anruf, der alles veränderte. „Gegen 1 Uhr in der Früh rief mich Husam an und versuchte mir etwas zu sagen, aber ich konnte ihn nicht gut hören. Er rief erneut an und sagte: „Yaba (Papa), Ibrahim wurde getötet“.“
Die 20jährige Reem, die Zahnmedizin studiert, erinnert sich, dass sie ihr weinender Vater aufweckte. „Er sagte, Ibrahim sei getötet worden, aber ich konnte nicht begreifen, was er mir da sagte. Alles, was ich immer wieder antwortete war: „Ibrahim lebt, und er kommt“.“
Aber Ibrahim kam nicht und wird auch nicht mehr kommen. Die Beerdigung fand noch am selben Tag statt, wie es in muslimischen Ländern oft Brauch ist. Danach herrschte Stille im Haus und Trauer. Und Ramadan, das Fest der Familie, das zwei Tage nach seinem Tod begann, war nicht mehr wie früher.
Reem bestand darauf, dass die Mutter Lamm Shawarma zubereitet, denn das war Ibrahims Lieblingsgericht. „Aber Ibrahim wird zu Iftar nicht am Tisch sitzen, um es zu genießen“, beklagte seine Mutter Amal. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Sohn mit seinen drei Schwestern und vier Brüdern immer am Tisch Späße machte, bis das Fasten gebrochen wurde. Jetzt war sein Platz leer, und für die Mutter war es unendlich schwer, zu akzeptieren, dass ihr Sohn nie mehr dabei sein würde.
„Er war sehr liebevoll zu seinen Geschwistern“, sagt sie. „Vor allem zu seinem kleinen, siebenjährigen Bruder.“
Auch Reem erinnert sich mit viel Liebe an ihren Bruder, wie er während ihrer Examen immer vor der Universität auf sie gewartet hatte. Dann kaufte er einen Imbiss, und sie gingen lachend und Witze machend gemeinsam nach Hause.
„Mein Leben mit Ibrahim ist voller Erinnerungen. Wir waren wie Seelenverwandte“, sagt Reem. „Immer haben wir alles gemeinsam gemacht … und wann immer ich ihn bat, etwas für mich zu tun, hat er ok gesagt.“
Den Tod ihres Bruders hat sie noch immer nicht begriffen. „Ich weiß nicht, ob das real ist oder nicht. Gestern hab ich meine Mutter gebeten, Ibrahim anzurufen, damit er uns etwas zu essen kauft. Und dann ist mir die bittere Wahrheit klar geworden.“
Ibrahims Zimmer ist jetzt verschlossen, und Bilder von ihm hat die Familie aus dem Haus entfernt, um die Gefühle seiner 12jährigen Schwester zu schonen.
„Sie kann die Tatsache, dass er tot ist, noch immer nicht fassen“, sagt ihre Mutter.
Das Fest der Kinder – ohne Kinder
Auch für Worod al-Jamal geht Ramadan mit bitterer Traurigkeit zu Ende. Ihr 14jähriger Sohn Haitham al-Jamal wurde vor einer Woche von israelischen Scharfschützen erschossen, als er am Grenzzaun Autoreifen trug. „Dies ist das härteste Eid-Fest meines Lebens“, sagt seine Mutter.
Am Donnerstag zeigte die Mutter Journalisten eine neue Jeans, ein paar neue Schuhe und ein neues T-Shirt, die sich ihr Sohn Haitham zwei Tage vor seinem Tod noch gekauft hatte. Denn zu Ramadan und Eid al-Fitr gehört traditionell auch, dass Kinder neu eingekleidet werden. Nun liegen die neuen Kleider für Eid al-Fitr auf seinem Bett, aber Haitham wird sie nie anziehen.
Der 13jährige Abdel-Rahman Nofal hat die Kugeln der israelischen Scharfschützen zwar überlebt, aber das Einkaufen zu Eid al-Fitr mit seinem Vater bietet nicht mehr die Freude, wie früher. „Ich habe ein Paar Schuhe gekauft“, sagt er, „aber ich werde nur einen Schuh tragen. Den anderen lass ich zuhause.“
Am 17. April zerfetzten ihm explodierende Kugeln aus Gewehren israelischer Soldaten sein linkes Bein. Es musste amputiert werden.
Für zwei Schuhe hat der 13jährige keinen Bedarf mehr.